Richter, Elise

Aus Romanistenlexikon
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Elise Richter (2.3.1865 Wien – 21.6.1943 Ghetto Theresienstadt); Tochter von Dr. med. Maximilian Richter (1824-1890), Chef des Sanitätsdienstes der k. u. k. privilegierten Südbahn; Schwester der Anglistin Helene Richter (1861-1942)

Verf. Frank-Rutger Hausmann

Romanische Philologie, bes. historische romanische Lautlehre u. Syntax, zumal der ältesten Zeit; historische romanische Semantik; allgemeine Phonetik; zeitgenössisches Französisch

1897, nach Privatunterricht u. Gasthörerschaft U Wien Maturitätsprüfung als Externe Akad. Gymn. Wien; im gleichen Jahr, nach Zulassung der Frauen zum Studium, Immatrik. Wien Indogerm., Germ. u. Rom.; 2.7.1901 Prom. (Wilhelm Meyer-Lübke; Adolfo Mussafia) als dritte Frau in Wien; 3.6.1905 Habil. Wien; 1907 erste PDoz.in Österreich; 29.8.1921 Titel einer ao. Professorin, doch erst 1927 bezog sie Gehalt aufgrund eines am 14.2.1922 erteilten LA.s f. Sprachwiss. u. Phonetik; 1922 Gründung d. Verbands der Akademikerinnen Österreichs (Mitgl. bis 1930). Am 10.3.1938 Beendigung d. Lehrtätigkeit; nach dem „Anschluß“ Österreichs an das Dt. Reich verlor sie am 23.4.1938 aufgrund der NS-Rassengesetze ihren LA. 1940 beendete sie ihre thematisch geordnete Autobiographie „Summe des Lebens“, einen durch Nüchternheit wie analytische Schärfe bestechenden Lebensbericht. Ein Angebot, nach Großbritannien zu emigrieren, lehnten R. und ihre Schwester ab. 1941 (oder 42) Zwangseinweisung in ein Wiener Altersheim; am 10.10.1942 Deportation beider Schwestern nach Theresienstadt, wo sie im Abstand eines halben Jahres starben.

Nach Elise Richter ist ein Preis benannt, den der DRV seit 1999 anläßlich der Romanistentage für herausragende Dissertationen u. Habilitationen vergibt.

„Erziehung u. Entwicklung“, in: Elga Kern (Hrsg.), Führende Frauen Europas in sechzehn Selbstschilderungen, München 1928, 70-93; Summe des Lebens, Wien 1997.

Zur Entwicklung der romanischen Wortstellung aus der lateinischen, Halle a. S. 1903 (Diss.); AB im Romanischen, Halle a. S. 1904 (Habil.-Schr.); Die Bedeutungsgeschichte der romanischen Wortsippe bur(d), Wien 1908; Wie wir sprechen. Sechs volkstümliche Vorträge, Leipzig 1912, 1925; Fremdwortkunde, Leipzig-Berlin 1919; Lautbildungskunde. Einführung in die Phonetik, Leipzig-Berlin 1922; Die Entwicklung des neuesten Französischen, Bielefeld-Leipzig 1933; Beiträge zur Geschichte der Romanismen I. Chronologische Phonetik des Französischen bis zum Ende des 8. Jahrhunderts, Halle a. S. 1934; Kleinere Schriften zur allgemeinen u. romanischen Sprachwissenschaft. Hrsg. Yakov Malkiel / B. M. Woodbridge, Jr., Wolfgang Meid, Innsbruck 1977 (bibl. raisonnée 583-599).

„Sie reklamierte für sich eine Sprachforschung, der ,keine sprachliche Äußerung entgehen durfte‘ […] – und stand damit durchaus auch im Horizont der zeitgenössischen unmittelbaren Sprachanalyse, wenn sie ,diskursanalytisch‘ aktuelle Fragestellungen der Öffentlichkeit aufgriff […]. Sprachwissenschaft hatte für sie einen umfassenden Sinn: Basis war die Phonetik (die sie instrumentell betrieb – sicherlich ein gezielter emanzipatorischer Akt einer Frau, in der gesuchten naturwissenschaftlichen Orientierung, erleichtert vielleicht durch einen Vater, der als Arzt praktizierte), und insofern war für sie (wie für die späteren deskriptiven Strukturalisten) die gesprochene Sprache methodisch primär, die die analytischen Muster gerade auch zur sprachlichen Rekonstruktion liefern mußte. Die Schriftsprache kommt bei ihr nur indirekt in den Blick: als indirekte Ausdrucksform der grundsätzlich gesprochenen Sprache wie in ihrem als ,Einführung in die Sprachwissenschaft‘ avisierten Bändchen Wir sprechen. Dann vor allem als (in der Regel verzerrte) Form der historischen Belege […]. Ihre syntaktische Theorie gründete sie auf sorgfältige experimentelle Studien, vor allem auch im Bereich von Akzent und Intonation, indem sie den Satzbau aus den dialogischen Bedingungen der Gesprächssituation zu begreifen sucht.

Gegenüber der positivistischen Faktenanhäufung der Junggrammatiker hat sie die Grenzen des sprachwissenschaftlichen Gegenstandsbereiches weit gezogen: wie auch bei anderen ihrer Generation bildet die Analyse stilistischer Erscheinungen den Grenzwert syntaktischer Analysen und gehört insofern dazu; von da aus konnte sie dann auch Exkurse in literarische Bereiche unternehmen (wie etwa in ihrem einflußreich gewordenen Aufsatz ,Impressionismus, Expressionismus und Grammatik‘). Damit konnte sie sich in Übereinstimmung mit den frühen strukturalistischen Theoriereflexionen sehen. Wenn sie schon früh de Saussures Vorlesungen rezipiert, so i. S. von dessen Schüler und Herausgeber Bally: die synchronische Beschreibung der Sprachstruktur als ein analytisch erforderliches Artefakt, das bei der Analyse der Sprachpraxis im Hinblick auf seine praktische Motiviertheit weiter zu bestimmen ist“ (Maas, 2010, I, 632-633).

HSchA Nr. 09540-09581; Benjamin M. Woodbridge Jr., A Bibliography of the Writings of Elise Richter, Romance Philolgy 26, 1972-73, 342-360; H. H. Christmann, Frau und „Jüdin“ an der Universität. Die Romanistin E. R., Mainz 1989; Christmann, in: Christmann / Hausmann, Deutsche u. österreichische Romanisten, 1989, 316-317; LexGramm 1996, 791-792 (Ernst Pulgram); Hausmann, NDB 21, 2003, 525-526; Hurch, Bausteine I, 2009, 113-133 („,Bedauern Sie nicht auch, nicht an der Front zu sein?!‘, oder: Zwei Generationen und Krieg. Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Elise Richter“); 135-197 („,Damours vient mon chant et mon plour‘. Briefe von Carolina Michaëlis de Vasconcellos an Elise Richter“); 199-244 („,Wir haben die Zähigkeit des jüdischen Blutes!‘ Leo Spitzer und Elise Richter“); Maas, Verfolgung und Auswanderung, 2010, I, 631-645; Tanzmeister, „Die Wiener Romanistik“, 2010, 488-514; Hausmann, „Romanisten erinnern sich“, 2010, 141-142; Hoffrath, Bücherspuren, 2010; www.romanistinnen.de.