Oesterreicher, Wulf

Aus Romanistenlexikon
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Wulf Oesterreicher (2.12.1942 Oberbaumgarten, Südmähren – 7.8.2015 Freiburg)

Verf. Frank-Rutger Hausmann

Romanische Philologie, bes. Sprachwissenschaft (Sprachphilosophie, Sprachtheorie, Sprachtypologie, Linguistiktheorie, Grammatiktheorie, historische Linguistik, Syntax, Geschichte der Sprachwissenschaft, Varietätenlinguistik, gesprochene Sprache in der Romania)

1961 Abitur Esslingen; 1961–69 Stud. Rom., Germ., Gesch., Philos. Tübingen, Nancy, Freiburg i. Br.; 1965–66 Assistant d’allemand Lycée d’État Commercy (Meuse); 1969 1. StE. Tübingen; 1971 Wiss. Angest. Freiburg i. Br. (Lehrstuhl Gauger); 1977 Prom. (Hans-Martin Gauger; Oswald Szemerényi) Freiburg i. Br.; 1989 Habil. Freiburg i. Br.; 1989–91 PDoz.; 1990–91 LVtr. Frankfurt a. M. (Brigitte Schlieben-Lange); 1991–94 ao. Prof. LMU München; 1991–96 Leitung des Teilprojekts „Nähesprachlich geprägtes Schreiben in der Kolonialhistoriographie Hispanoamerikas“ im Rahmen des Freiburger SFB 321 „Spannungsfelder und Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“; 1994–2010 o. Prof. LMU München (Nachf. v. Wolf-Dieter Stempel); 1996f. Gastdozenturen in Europa u. Amerika; 1992–94 Abgelehnte Rufe Potsdam, Saarbrücken, Frankfurt a. M.; 1997–99 Dekan; 2002–08 Sprecher des Münchener SFB 573 „Pluralisierung u. Autorität in der Frühen Neuzeit“.

1.1.2003 o. Mitgl. Bayer. Akad. d.Wiss. München; 2005 korr. Mitgl. Academia Peruana de la Lengua, Lima; 2010 o. Mitgl. Dt. Akad. f. Sprache u. Dichtung Darmstadt.

DRV (1997–2001 Vors.); DHV; DIV; FRV; SLR (2010 Conseiller de la Société de Linguistique Romane).

Romanische Syntax im Wandel. [Festgabe zum 65. Geburtstag von Wulf Oesterreicher]. Hrsg. v. Elisabeth Stark u. a., Tübingen 2008.

„Wie wird einer wie ich Romanist“, in: Romanistik als Passion III, 2014, 175–212 (P).

Sprachtheorie u. Theorie der Sprachwissenshaft, Heidelberg 1979 (Diss.); (gem. mit Hans-Martin Gauger u. Rudolf Windisch), Einführung in die Sprachwissenschaft, Darmstadt 1981; (gem. mit Peter Koch), Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 1990; 22011; Autorität der Form, Autorisierung, institutionelle Autorität, Münster 2003; Esplendores y miserias de la evangelización de América. Antecedentes europeos y alteridad indígena, Berlin 2010.

„Wulf Oesterreicher verstand sich vor allem als Strukturlinguist; die beiden Artikel zu ,Gemeinromanische[n] Tendenzen‘ (,Syntax‘ und ,Morphosyntax‘) im Lexikon der Romanistischen Linguistik (Ch. Schmitt/G. Holtus/M. Metzeltin eds., Tübingen: Niemeyer 1996) waren die Grundlage seiner kumulativen Habilitation; sie und der zusammen mit M. Haspelmath, E. König und W. Raible herausgegebene Doppelband Sprachtypologie und Universalienforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 20.1/2) stehen für die Themen ,Sprachwandel‘ und ,Typologie‘, und damit für den funktionalistischen Zugang Oesterreichers zur Sprachstruktur.

Seit der Dissertation (Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft) […] zählten aber besonders die Theoriediskussion und die methodologischen Schlüsse, die daraus zu ziehen sind, zu Oesterreichers Hauptanliegen. Seine Bestimmung des Gegenstands der Sprachwissenschaft steht in der Tradition Humboldts, Saussures und des Strukturalismus, vermittelt durch seinen wichtigsten Tübinger Lehrer Eugenio Coseriu. Von dort stammt aber auch die Einsicht, dass dieses Objekt der Historizität unterliegt, dass nicht nur die Sprache, sondern bis zu einem bestimmten Grad auch die sprachliche Aktivität eine historische Größe ist.

Der disziplinären Selbstvergewisserung dient auch die Einführung in die romanische Sprachwissenschaft (Darmstadt, WBG, 1982), die Oesterreicher mit seinem Freiburger Lehrer und Mentor Hans-Martin-Gauger und seinem Kollegen Rudolf Windisch verfasst hat und die mehr als eine Fachgeschichte denn als ein Einführungsbuch zu lesen ist. Die Wissenschaftsgeschichte blieb für Oesterreicher ein zentrales Thema: zum einen das komplexe Verhältnis zwischen der universalistisch denkenden Sprachreflexion der französischen Aufklärung und der ,historischen Wende’, die der deutsche Idealismus, angeführt durch Wilhelm von Humboldt, dem entgegensetzte; zum anderen die Aufsätze über die nationale Sprachgeschichtsschreibung, wo herausgearbeitet wird, inwieweit die sprachhistorische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts einer ,invertierten Teleologie‘ unterliegt, indem sie in den ältesten Texten der romanischen Sprachen bereits die Keimzellen der Sprachen entdecken will, die sich erst in der Neuzeit aus historischer Kontingenz als Nationalsprachen konstituiert haben.

Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von universellen Prinzipien und historischen Anteilen beim Sprechen und bei den Sprachen liegt auch der Theorie von sprachlicher Nähe und sprachlicher Distanz zugrunde, die Oesterreicher in den 1980er Jahren zusammen mit Peter Koch im Kontext des legendären interdisziplinären Freiburger Sonderforschungsbereichs Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit entwickelt hat und die die unpräzisen Begriffe mündlich und schriftlich in einer umfassenden Theorie der verschiedenen Modi sprachlicher Kommunikation rational rekonstruiert; eine Theorie, die gerade im Umbruch der neuen Medien ihr Potential erweist und die auch jenseits der Romanistik zum Standard wurde. Die spanische Version des 2011 neu aufgelegten Buchs Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch (Berlin/New York: De Gruyter) begründete den enormen Einfluss und das hohe Ansehen, das Oesterreicher auch in Spanien und Lateinamerika hatte. Auf dieser Theorie bauen auch seine Publikationen und Forschungsprojekte zum Schrifttum der kolonialen Expansion Spaniens auf. Dort geht es vor allem um die aufgeschriebenen Berichte und Zeugnisse von wenig oder gar nicht schreibkundigen Konquistadoren und ihre eigenartige Verfangenheit zwischen gewohnter sprachlicher Nähe und dem Bemühen um die nur vage vertrauten Regeln der sprachlichen Distanz. Wieder zeigt sich hier der historische Aspekt, dem nicht nur die Sprachstrukturen, sondern auch die Prinzipien und Regeln der Textproduktion unterliegen: der Begriff der Diskurstradition, mit seiner beeindruckenden Erfolgsgeschichte in der Romanistik des deutschsprachigen Raums und in der Romania selbst, ist ebenfalls als ein Teil des Theoriegebäudes von Peter Koch und Wulf Oesterreicher entstanden“ (Jacob, 2015).

Kürschner, LH 1994, 2, 678 (P); Hans-Martin Gauger, „Die Sprache der Nähe. Zum Tod des Romanisten Wulf Oesterreicher“, FAZ 10.8.2015, Feuilleton, 12; Nachruf www.romanistik-uni-muenchen.de (P); Daniel Jacob, Nachruf, Romanistik.de